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AutorenbildJohanna Moertl

Leseprobe Jede Welle flüstert deinen Namen

Aktualisiert: 8. Jan. 2023

Prolog



Möwen kreischen und kreisen am tiefblauen Himmel. Die Sonne hat auch im Oktober noch Kraft, brennt aber nicht mehr so erbarmungslos herunter wie in den Sommermonaten.

Pfeifend stapfst du neben mir durch den Sand. Der Wind fährt energisch in dein dichtes dunkelbraunes Haar, doch es ist zu kurz, um dich zu stören. Im Gegensatz zu meinem, das fast bis an meinen Po reicht und mir ständig vor das Gesicht geblasen wird.

Lachend halte ich es dem Wind entgegen und werde befreit. In Tarifa ist es immer windig, zumindest hier am Strand, nicht umsonst gilt es als das Paradies in Andalusien für Windsurfer.

Neben einer schützenden Düne lassen wir die Strandtaschen von den Schultern gleiten und breiten die großen Badetücher des Hotels aus.

Ich krame nach der Sonnencreme und reiche sie dir. „Hier. Würdest du?“

„Klar. Aber halt die Haare fest.“

Bäuchlings mache ich es mir auf dem Tuch gemütlich und fasse das Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Du kniest dich neben mich, sprühst Creme auf meinen Rücken und verreibst sie.

„Dein Freund ist wieder da.“ Ich kann das freche Grinsen in deinem Gesicht sogar mit geschlossenen Augen sehen. „Soll ich ihn herwinken?“

Natürlich weiß ich sofort, von wem du sprichst. „Nein! Wehe, Olivier! Ich will ja nichts von ihm!“ Mit heißen Wangen hebe ich den Kopf und spähe zur Surfschule hinüber.

In der Tür der Holzhütte, in der sich Bretter, Segel und sonstiges Surfequipment befinden, steht ein junger Mann, ungefähr so alt wie wir, zwanzig, höchstens einundzwanzig, und beobachtet uns. So wie er uns schon seit einer Woche beobachtet.

Er hat dunkelblondes, von Sonne und Meerwasser teilweise heller gebleichtes Haar, gerade so lang, dass er es nicht hinter die Ohren klemmen kann und es sich immer wieder aus dem Gesicht streichen muss.

Er ist groß, größer als die anderen Surfer, die sich hier so tummeln, und sieht ausgesprochen gut aus. Süß gut, nicht überheblich gut. Das ist mir aber nur aufgefallen, weil sein Äußeres so ungewöhnlich für einen Spanier ist. Denn abgesehen von dir ist er hier wohl der einzige Mann, der größer ist als ich, und der absolut einzige mit blondem Haar.

Ein spöttisches Lachen. „Na, du vielleicht nichts von ihm, aber er eindeutig von dir. Ich geh einfach mal rüber und frage ihn, ob er …“

Du erhebst dich, da bin ich schon aufgesprungen. „Hör auf, Oli. Lass das oder ich pack dir Sand in die Hose.“ Ich versuche, bei der Drohung ernst zu bleiben, was mir aber nicht gelingt.

„Das schaffst du nie.“ Breitspurig bläst du den Brustkorb auf.

„Und wie ich das schaffe.“ Ich hebe eine Handvoll weißer Körner auf und wiege sie bedeutungsvoll in der Hand.

„Dazu musst du mich erst mal kriegen!“ Mit einem Satz sprintest du davon, ich lachend hinterher. Am Wasser machst du abrupt halt und wirbelst herum. Vor Schreck entfährt mir ein Kreischen, ich greife nach deinen erhobenen Händen und versuche, dich rücklings ins Wasser zu schieben. Doch du bist stärker und drehst den Spieß einfach um, ich habe keine Chance. Bis zu den Knöcheln stehe ich schon im Wasser.

„Aaaaah! Hilfe!“

„Gibst du auf?“ Deine Strenge ist nur gespielt.

„Niemals!“

„Dann wirst du jetzt getauft.“

„Neeeeeiiin! Warte, warte, Oli.“ Ein letzter Blick in Richtung Surfschule. „Okay, du bist stärker als ich, gratuliere, aber ich bin schneller, wetten?“ Ich deute auf das offene Meer. „Wer verliert, muss bei unserer Abreise alle Koffer allein packen. Was sagst du?“

„Ernsthaft? Du glaubst, du kannst mich schlagen, obwohl ich in dieser Saison nur abgeliefert habe? Du hoffst wohl, dass ich mich heute Morgen im Pool verausgabt habe, was?“

„Ach, komm schon, außer mit den Surfbrettern sind wir die ganze Woche nie weit draußen gewesen. Zumindest einmal sollten wir in diesem Urlaub richtig im Meer geschwommen sein. Oder hast du Angst, dass ich dich vernichte?“ Ich kenne dich mein Leben lang, das lässt du nicht auf dir sitzen.

Du schnaubst durch die Nase und stemmst die Füße in Startposition in den Schlamm. „Bis zur ersten Boje?“

„Los!“, schreie ich und es spritzt zu allen Seiten, während wir lachend nebeneinander ins tiefere Wasser laufen.

Ich bin die Erste, die hineinhechtet und loskrault. Im selben Augenblick überzieht Gänsehaut meinen gesamten Körper. Vom Wasser, das schon fast zu kalt zum Schwimmen ist, und von der Aufregung. Alles an mir ist im Wettkampfmodus.

Als wir jünger waren und noch von Papa trainiert wurden, sind wir ständig gegeneinander angetreten. Doch seit dem Wechsel in das französische Schwimmteam vor ein paar Jahren haben wir dazu nur mehr im Urlaub Gelegenheit. Und die letzten Male gewannst immer du.

Doch in diesem Jahr, ich spüre es genau, momentan bin ich in der Form meines Lebens. Der Trainer sagt, alle Weichen stünden auf Olympia. Jetzt will ich es wissen.

Ich liebe das Meer, ich liebe seinen Rhythmus, die Farbschattierungen, seine Kraft. Und ich liebe es, darin zu schwimmen, mich mit den Wellen zu messen, ohne den beißenden Chlorgeruch in der Nase. Trotz der Anstrengung und Konzentration spüre ich das Lächeln, das sich in meine Mundwinkel schleicht.

Kurz vor der Boje bin ich immer noch ein Stück weit vor dir. Eins-Zwei-Atmen links. Eins-Zwei-Atmen rechts. Da ich beim Kraulen den Kopf unter Wasser und den Blick in die dunkelgrüne Tiefe gerichtet halte, bemerke ich das weiße Brett erst, als ich mich zum Luftholen erneut zur linken Seite drehe. Wie aus dem Nichts erscheint es vor mir. Beinahe lautlos gleitet es über die glatte Oberfläche.

Es kommt von schräg vorn und verfehlt mich nur haarscharf. Ich möchte schreien, doch schlucke nur salziges Wasser. Da höre ich einen dumpfen Schlag, ein einfaches Klonk. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Geräusch, das ich mein Leben lang nie mehr vergesse.

Der Windsurfer strauchelt ein wenig, dann hat er das Board wieder unter Kontrolle und flitzt unbedarft davon. Im Kreis drehend trete ich Wasser, für einen Augenblick noch hoffnungsvoll, eine Sekunde später panisch.

„Oli? Olivier?“ Meine Stimme ist dünn und hoch, fast nicht zu hören. Du tauchst bestimmt gleich auf. Ich versuche, mich zu orientieren. Wo bist du geschwommen? Hinter mir? Neben mir? Jedenfalls rechts.

Da sehe ich das Blut.

Es vermischt sich rasch mit den Fluten, wird heller, löst sich auf, doch es weist mir den Weg.

Mit einem hastigen Atemzug tauche ich nach unten, immer der Farbe nach. Dort ist dein dunkler Haarschopf, der friedlich im Wasser schaukelt. Die Schwaden von Blut werden dichter und du sinkst. Aber ich habe dich schon, ziehe an den Haaren, zerre dann an deinem Arm. Meine Lunge platzt beinahe, bis wir die Oberfläche erreichen. Ich greife nach deinem Kinn und schwimme und strampele, schlage einarmig Wasser zur Seite.

Um mich herum ist Stille, Stillstand, der Wind bläst nicht mehr, die Wellen rauschen nicht, die Möwen ziehen lautlos ihre Kreise. Alles, was ich höre, ist mein Herz, wie es schlägt, wie es erbarmungslos in meinen Ohren hämmert. Und die Panik, die in mir schreit.

Niemals im Leben bin ich schneller geschwommen als jetzt. Bei keinem Wettkampf. Bei keiner Meisterschaft. Und niemals wieder werde ich in diesem Tempo schwimmen. Ich weiß, dass ich gerade einarmig meinen Rekord breche. Deinen Rekord, Oli. Doch so, so habe ich das nicht gewollt.

Ich zerre dich, trage dich halb auf den Strand, schaffe es irgendwie aus dem Wasser. Du bist größer als ich und muskulös, doch die Verzweiflung treibt mich an. Hinter uns versickert eine Blutspur im Sand. Ich lasse dich runter und falle auf die Knie.

Ohne nachzudenken, lege ich meine Hände auf dein Herz und presse so fest ich kann. Wie oft soll man drücken? Dreißigmal, sagt der Autopilot in mir und ich zähle. Kopf überstrecken, Nase zuhalten. Dann lege ich die Lippen über deinen Mund, den ich zum letzten Mal auf meinem spürte, als wir noch im Kindergarten waren. Wie kalt er ist. Ich beatme dich zweimal. Und wieder 1-2-3-4 …

Zwei Surfer in Neopren rennen auf uns zu. „Ich löse dich ab“, sagt der eine auf Spanisch.

„Let me do it“, versucht es der andere. Doch ich ignoriere die beiden, will mich nicht verzählen.

Komm jetzt, Oli. Mach schon. Das dauert viel zu lange. Wach auf! Wieder drücken sich meine Lippen auf deinen Mund, pressen Luft in deine Lungen.

Dann steht auch der große Blonde neben mir. „Die Rettung kommen.“ Sein Französisch ist holprig. Woher weiß er, dass ich Französin bin? 15-16-17-18 …

Irgendwann ist der Rettungswagen da und die Sanitäter eilen herbei. Jetzt muss ich dich doch loslassen, dich hergeben. Widerwillig hebe ich die Arme, sie zittern heftig von der Anstrengung. Auf Spanisch erkläre ich kurz, was passiert ist. Meine Brust hebt und senkt sich, während ich nach Atem schnappe und verzweifelt die Tränen zurückhalte.

Als der Sanitäter übernimmt, erbrichst du endlich einen Schwall Wasser, doch du bleibst bewusstlos. Du warst viel zu lange ohne Sauerstoff. Warum war ich nicht schneller?

Wie in Trance sehe ich zu, wie sie dich auf eine Trage verfrachten und zum Wagen bringen. Der blonde Surfer legt ein Handtuch über meine Schultern und streckt mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Als ich aufblicke, sehe ich den gewohnten, überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht, sobald er meine Augen bemerkt, doch heute könnte mir nichts gleichgültiger sein.

Ab jetzt ist alles gleichgültig, wenn du es nicht schaffst. Solltest du sterben, dann hört mein Herz zu schlagen auf, in derselben Sekunde, das ist sicher. Denn unsere Herzen haben gleichzeitig ihren Dienst aufgenommen, um dann zwei Jahrzehnte lang im Gleichtakt zu schwingen. Ohne dich bin ich nur halb. Ohne dich will ich gar nicht sein.

Ich verzichte auf die angebotene Hilfe, taumle in den Rettungswagen und verlasse diesen verfluchten Ort für immer.




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